Die Predigt im Wortlaut:
Das hat sich mir eingeprägt: Soweit ich mich zurückerinnern kann, sehe ich die Schwestern vor mir, die Tag für Tag in meiner Heimatgemeinde unterwegs waren, um Wegbegleiterinnen, um Schwestern für die Menschen zu sein. Ihre Namen haben sich mir eingeprägt, obwohl es bald 65 Jahre her ist.
- Schwester Iltrudis, die meiner Mutter den Freiraum zur Mitarbeit beim Hausbau, den meine Eltern wagten, verschaffte, in dem sie mich schon mit zwei Jahren in den Kindergarten aufnahm. So war ich schließlich fünf Jahre in ihrer Obhut zusammen mit insgesamt 80 Kindern in einem großen Saal.
- Schwester Theoburgis, die mit ihrem Moped im ganzen Dorf unterwegs war, um die Kranken zu besuchen und zu pflegen und manchmal mehr erwirkte als der Arzt. So kam sie auch zu uns ins Haus, um meine Oma Katharina in ihrem gebrechlichen und zunehmend von der Last eines arbeitssamen und von daher nun von Krankheit gezeichneten Lebens zu pflegen. Als meine Großmutter am 1. April 1966 verstarb, war sie es, die als erste im wahrsten Sinne des Wortes Anteilnahme schenkte. Sie war es auch, die wie eine Ärztin mich mutig behandelte, als ich als Kleinkind an die glühende Ofentüre griff und beide Hände verbrannt hatte. Mit Schere und Pinzette entfernte sie die verschmorte Haut. So hat sie verhindert, dass keine Narben zurückblieben. Sie griff ein, ohne lange nach einem Arzt zu suchen.
- Schwester Balderika, die für das leibliche Wohl ihrer Mitschwestern sorgte, das Schwesternhaus als gastlichen Ort umsorgte und ebenso in Kirche und Sakristei ihren Dienst versah.
Die Schwestern gehörten ins Dorf und zu den Menschen. Wenn wir als Kinder uns irgendwo beim Spielen eine Blessur zufügten, dann rannten wir ins Schwesternhaus, wo wir versorgt wurden, bevor wir zuhause die zerrissenen Hosen eingestanden haben.
Diese gelebte Zuwendung zu den Menschen hatte ihren Grund: Wie es damals üblich war, gab es in der Kirche beim Gottesdienst eine Buben- und eine Mädchenseite. Acht Klassen waren es in diesen Jahren noch. Und in der neunten Bank war der Platz der Schwestern – unmittelbar hinter den Kindern und den heranwachsenden Jugendlichen. Hier stärkten sich die Schwestern für den Tag und ihren Dienst, bevor jede sich ihren Aufgaben zuwendete.
Genau das hat sich mir auch eingeprägt: Der Gottesdienst als Ausgangspunkt für das Wirken der Schwestern. Heute würde ich sagen: Sie waren in seinem Namen und in seinem Auftrag unterwegs und sie gaben durch ihren Einsatz Zeugnis für IHN.
Ja, genau das hat sich mir eingeprägt, dass Gottesdienst und Dienst am Nächsten zusammengehören. Die Schwestern waren darin Vorbild. Leider haben wir das im Laufe der Jahrzehnte vergessen. Das geschah spätestens ab dem Zeitpunkt, als die Schwestern nicht mehr in den Gemeinden, nicht mehr unter den Menschen in deren Lebens- oder – wie wir heute sagen würden – Sozialraum präsent waren. Heute mühen wir uns, die unverzichtbare geistige und geistliche, die spirituelle Grundlage für das karitative Wirken der Kirche durch ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewusst zu machen. Papst Benedikt schrieb in seiner nach wie vor lesenswerten wegweisenden Enzyklika „Deus caritas est“ von der Kommunikation von Herz zu Herz. Ein noch so frommer Redeschwall, und wenn noch so dick „Spiritualität“ darüber geschrieben ist, hat nicht die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft wie ein von Herzen kommender Einsatz für den Nächsten.
Von dieser Überzeugung getragen hat Vinzenz von Paul, der Vordenker und Vorarbeiter der modernen Caritasarbeit den Frauen, die er um sich sammelte und mit denen er den Orden der Barmherzigen Schwestern, der Vinzentinerinnen, gründete, ins Stammbuch geschrieben: „Eure Kapelle ist die Pfarrkirche, euer Kloster sind die Häuser der Armen und Kranken, die Straßen der Gemeinde, der Kreuzgang, eure Zelle, die Wohnung, in der ihr lebt.“
Es ist nicht mehr als richtig und wichtig, dass den Menschen, die sich beruflich für andere einsetzen, auch eine angemessene Vergütung zukommt, auch um damit im Alter selbst menschenwürdig versorgt zu sein. Das gilt ebenso für Ordensleute. Aber vor 60, 65 und 70 Jahren, als Sie Ihre Profess ablegten und sich damit entschieden haben, der Berufung und Sendung Jesu folgend ihr ganzes Leben in den Dienst am Nächsten zu stellen, da spielten finanzielle Überlegungen keinerlei Rolle.
Auch eine Ordensgemeinschaft braucht eine solide wirtschaftliche Grundlage. Aber es darf niemals der Eindruck aufkommen, es geht vor allem um Geld. Die Menschen um uns herum sind hellhörig und kein Fernsehsender scheut davor zurück, in die Öffentlichkeit zu tragen: Da steckt viel Geld drin oder für soziale, caritative Aufgaben wird nur ein Bruchteil eingesetzt.
Sie, liebe Schwestern, waren in den 60, 65, 70 Jahren Ihres Ordenslebens die meiste Zeit unter den Menschen unterwegs in Städten, Dörfern und großen sozialen Einrichtungen und sie haben so im unmittelbaren Kontakt mit den Menschen und ihrem Alltag miterlebt, wie unser Land wirtschaftlich aufblühte, wie der Wohlstand zunahm, das alltägliche Leben immer einfacher wurde, und wie das Leben überhaupt immer stärker vom technischen und schließlich digitalen Fortschritt geprägt wurde. Radio und Fernsehen und schließlich die sogenannten „social media“ beeinflussten unser Denken und Verhalten. Gleichzeitig wurden die Familien kleiner, die alltägliche Solidarität im unmittelbaren Lebensumfeld ließen nach, Kirche verlor mehr und mehr an Bedeutung. Hoffnung, Zuversicht, Gottvertrauen gingen vielen unserer Zeitgenossen verloren.
Die Zahl der Menschen, die sich im Auftrag Gottes in den Dienst am Nächsten stellten, wurde immer kleiner.
Nun erleben Sie, dass Menschen regelrecht satt und der gängigen Lebensweisen überdrüssig sind. Mit „Fridays for Future“ z.B. gehen im ganzen Land Hundertausende von jungen Menschen auf die Straße und mahnen den Lebensstil an. Andere fürchten, die „Letzte Generation“ zu sein und kleben sich auf die Straßen oder in Museen fest; dies ist in der Methode gewiss überzogen, gerade auch dann, wenn wertvolle Kunstwerke beschädigt werden.
Wer aber nimmt sich gerade jetzt der Ratlosen, Fragenden, Zweifelnden und Suchenden an und hilft ihnen, einen guten und verheißungsvollen Weg zu finden, um so auch unsere Welt menschenwürdig und lebenswert zu gestalten und in den Menschen Hoffnung und Zuversicht und vor allem Gottvertrauen zu stärken? Wer ist bei ihnen und mit ihnen unterwegs in ihren Lebens- in ihren Sozialräumen, in den Stadtteilen, in den Dörfern und in den großen sozialen Einrichtungen?
Ich habe Ihnen eingangs erzählt, was sich mir eingeprägt hat, insbesondere das glaubwürdige Zeugnis der Schwestern, die ich – seit ich denken kann – erleben durfte. Wo aber erleben Kinder und Heranwachsende heute Ordensleute und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die durch ihre eigene Haltung und ihr Wirken Zeugnis geben?
Es werden Visionen formuliert, Strategiepapiere diskutiert, Strukturen entwickelt, Gebäude ertüchtigt und umgestaltet. Doch es bleibt die Frage: wie erreichen die Menschen jemanden, wenn sie ein Problem haben, wenn Sorgen oder nur Unsicherheiten sie erfüllen?
Für den Festgottesdienst heute zum Dank für ein lebenslanges Wirken im Dienst an Gott und den Menschen hat die Vorbereitungsgruppe als Evangelium das Erlebnis der Jünger auf ihrem Weg nach Emmaus ausgesucht. Ich habe mich sehr über diesen Impuls gefreut, denn genau diese Botschaft wurde bei unserer Priesterweihe verkündet und von Bischof Paul-Werner in der Predigt unter den Gedanken „Weggemeinschaft“, „Wortgemeinschaft“, „Mahlgemeinschaft“ gedeutet.
Um die Kraft der Botschaft, die der Evangelist Lukas überliefert hat, erahnen zu können, müssen wir uns in die beiden Jünger versetzen. Sie hatten alles stehen und liegen gelassen und waren Jesus nachgefolgt. Ihre Begeisterung wurde immer größer und damit der Gedanke, mit ihm die aktuelle politische und auch religiöse Situation zu verändern und zu gestalten. Und dann kamen nach dem Abendmahl und dem zusammenfassenden, starken Zeichen der Fußwaschung die bangen Stunden des Zweifels im Garten Getsemani und schließlich die öffentliche Erniedrigung der Verurteilung, der Geißelung und schließlich der Kreuzigung. Das hat die Jünger so getroffen, dass sie der Botschaft der Frauen am Ostermorgen keinen Glauben schenken konnten. Für sie war alles zum Davonlaufen.
An diesem Tiefpunkt ihrer Enttäuschung und Aussichtslosigkeit solidarisiert sich ein Fremder mit ihnen. Weil es nicht nur eine zeitlich begrenzte Sprechstunde oder festgesetzte Öffnungszeit war, sondern ein zu Herzen gehendes Gespräch, wünschen sie sich in diesem Augenblick nur eines: „Bleibe bei uns!“ Und beim Brechen des Brotes erkennen sie ihn. Der, der mit ihnen das Brot ihrer Trauer, ihrer Ohnmacht, ihrer Aussichtslosigkeit teilte, war der, der versprochen hat: „Ich bin bei euch alle Tage eures Lebens!“
Dafür gaben die Schwestern, die ich von frühester Kindheit an erleben durfte, Zeugnis. Das hat mich geprägt!
- Deshalb sehe ich meinen Dienst heute hier in ihrem Kreis als stellvertretend für unzählige Menschen, denen Sie an vielen Orten Wegbegleitung und Hilfe schenkten, und die Ihnen dafür bis heute dankbar sind.
- Mit Ihnen, liebe Jubilarinnen, will ich all denen danken, die Ihnen als Ordensfrauen immer wieder Mut gemacht haben, wenn Sie selbst auf manchen Wegstrecken unsicher wurden.
- Schließlich will ich mit Ihnen, liebe Schwestern, und denen, die Ihrem Wirken gestärktes Vertrauen ins Leben und in Gott verdanken, an Ihrem Festtag Gott bitten, dass er auch in Zukunft Menschen gewinnen kann, anderen seine Liebe, seine Fürsorge weiterzugeben.
Dann werden sich – das lehrt uns die Geschichte – junge Menschen nicht nur für ein gesundes Klima und eine lebenswerte Umwelt einsetzen, sondern sich – so wie Sie vor 60, 65, 70 und mehr Jahren – wieder IHM zuwenden, SEINER frohen Botschaft folgen und auch SEINE Lebensbotschaft bezeugen durch einen glaubwürdigen Einsatz für das Leben und eine von Gott gesegnete Zukunft.
So werden auch weiterhin Menschen und somit die Welt geprägt durch überzeugte und überzeugende Christen!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung nach der Kommunion
Nur der Kranke,
den wir besuchten,
wird uns die Einsamkeit nehmen.
Nur das Wort,
das anderen Hilfe war,
wird uns trösten.
Nur die Hand,
die wir anderen hinhielten,
wird uns versöhnen.
Nur das Brot,
das wir anderen zu essen gaben,
wird uns sättigen.
Nur die Kleider,
die wir anderen schenkten,
werden uns vor der Nacktheit bewahren.
Nur die Hoffnung,
die wir anderen schenkten,
wird uns am Leben teilhaben lassen.
(Autor unbekannt)